Dutzende Jugendliche aus El Juncal in Ecuador haben es geschafft, spielen im Ausland oder der Nationalmannschaft. Beeindruckend für ein wenige-hundert-Seelen-Dorf in einer der ärmsten Regionen des Landes. Doch der Traum vom Profi-Fußball scheint ausgeträumt.
Severito Rodríguez rammt den Spaten in den steinigen Boden. Er gräbt die von der Sonne ausgeblichene Erde unter, bis wieder dunkle Erde oben liegt. Severito steht auf einem Feld im Tal des Chota-Flusses im Norden Ecuadors. Er ist groß und sehnig, nur ein paar weiße Haare auf seiner schwarzen Haut lassen das Alter des 48-Jährigen erahnen. Zwischen seinen Füßen sprießen Ackerbohnen in langen grünen Reihen. Die Erde ist trocken, die Arbeit hart. Zehn Dollar bekommt Severito am Tag. Das reicht gerade so, um seine Familie zu ernähren. Seine Frau und seine vier Kinder.
Severito könnte zufrieden sein. Denn früher verdiente er gar nichts. Da war er noch Trainer an der Fußballschule im Ort. Doch damals war er es, sagt er voller Stolz, der kleine Kinder zu großen Fußballstars gemacht hat.
Zwölf Jahre stand Severito jeden Nachmittag auf dem staubigen Sandplatz zwischen Fluss und Schnellstraßenbrücke. Hunderte Jugendliche hat er in dieser Zeit trainiert. Alle aus El Juncal, seinem Heimatdorf. Und dem Heimatdorf eines Nationalhelden: Agustín Delgado, kurz „Tin“. 2002 schoss der das erste Tor für Ecuador bei einer Weltmeisterschaft überhaupt. Seitdem ist er das Vorbild schlechthin für alle Jungs im Ort. Im Jahr 2000 baute „Tin“ hier eine Fußballschule auf. Trainer Severito war von Anfang an dabei. „Wir haben mit zwei kaputten Bällen angefangen. Jeden Tag mussten wir sie neu aufpumpen. Am nächsten Tag war die Luft schon wieder raus.“
Als die ersten Fußballschuhe ins Dorf gebracht wurden, war an Training nicht zu denken, erinnert sich Severito. „Die Jungen rannten kurz, schossen den Ball und schauten dann ihre Schuhe an. Sie blieben ständig stehen! Um die Schuhe anfassen zu dürfen, taten sie so, als wollten sie sich die Schnürsenkel binden. Dabei wussten sie gar nicht wie das geht.“ Mehr und mehr Kinder und Jugendliche kamen zum Training. Die Schule wurde ein Riesenerfolg und brachte ein Talent nach dem anderen hervor. Drei von Severitos Schützlingen spielen inzwischen sogar im Ausland: Renato Ibarra in den Niederlanden, Walter Chalá in Russland und Brandon de Jesús in Mexiko.
Regelmäßig kamen Vertreter der großen ecuadorianischen Mannschaften nach El Juncal, schauten sich die Talente an und nahmen viele von ihnen unter Vertrag. „Das ist der Traum aller Jugendlichen hier, Fußballstar zu werden.“, sagt Severito. „Sich hier zum Beispiel ein Auto zu kaufen oder ein schönes Haus, können sie nur durch den Fußball erreichen. Profifußballer haben einen Haufen Geld und können sich kaufen, was sie wollen.“
Doch nicht der Trainer allein hat aus den kleinen Jungs große Fußballer gemacht. Das Dorf selbst könnte der Grund sein. Denn außer dem Fußball gibt es für die Jugendlichen kaum etwas zu tun. Drei Straßen quer, drei längs und die Schnellstraße – der Sport ist der Ausweg aus der Armut des Chota-Tals.
Doch seit einem Jahr ist dieser Weg steinig oder gar unbegehbar geworden. Die Fußballschule gibt es nicht mehr. Wo früher der große Rasenplatz war, stehen wuchtige Betonpfeiler für eine neue Brücke über den Fluss. Nur der Sandplatz mit seinen großen weißen Toren und den herunterhängenden, zerfetzten Netzen ist geblieben. Warum die Fußballschule schließen musste, weiß niemand im Ort. Von einem Tag auf den anderen drehte „Tin“ den Geldhahn zu. Dabei ließ sich mit den Nachwuchsspielern prima Geld verdienen! Und gut für das Image vom „Tin“ war sie auch. Ansehen und viele Wählerstimmen haben ihn inzwischen in die Ecuadorianische Nationalversammlung gehievt. Dort sitzt er nun als Abgeordneter und redet nicht gerne mit Journalisten.
Trainer Severito fühlt sich vom „Tin“ betrogen. Um seine Arbeit, seine Mühen, seinen Lohn: „Ich bin sauer auf diesen Mann!“ Ziel des Projektes sei es doch gewesen, dass es allen besser geht. „Für die Kinder haben wir das geschafft.“, sagt Severito. Auch Agustín habe mit ihnen viel Geld verdient. „Nur uns hat er im Stich gelassen, die wir alles für die Schule gegeben haben.“
Das habe er nicht verdient, findet Severito. Und die Kinder auch nicht. Deshalb will er seine eigene Fußballschule eröffnen. „So etwas muss es hier einfach geben.“, sagt er. Pläne hat er auch schon: „Zuerst müssen wir eine Gemeindeliga aufbauen, um Sponsoren zu gewinnen.“ Mit diesem Geld könne man die Kinder dann fördern. Es fehlt an Bällen, Trikots, Fußballschuhen. „Mit 1500 Dollar im Monat könnten wir viel erreichen.“, sagt Severito. Und bei den Familien würde davon dann auch endlich etwas ankommen.
Auch der 14-jährige Chalo gibt seinen Traum nicht auf. Er will Profifußballer werden. So wie Antonio Valencia, sein großes Vorbild. Der kommt aus einem Ort ganz in der Nähe und spielt jetzt bei Manchester United. Nur wie Chalo in seine Fußstapfen treten soll, weiß er nicht so genau – jetzt, wo es die Schule nicht mehr gibt. „Vielleicht machen sie ja nochmal eine Schule auf“, hofft er. „Solange spiele ich hier weiter mit meinen Freunden.“ Jeden Tag. Von halb vier bis fünf Uhr nachmittags.
Fußballprofi werden bleibt der Königsweg in El Juncal. Wer es nicht schafft, verlässt das Dorf – wenn überhaupt – meist als Polizist, Soldat oder Krankenpfleger. Wenig Glamour nach so viel Hoffnung.
Seit es die Fußballschule nicht mehr gibt, kommen keine Trainer und Talentsucher mehr nach El Juncal, es werden keine Spiele mehr gegen andere Mannschaften ausgetragen. Die Chance, entdeckt zu werden, ist plötzlich gleich null. Die Jungs aus dem Chota-Tal sind binnen kürzester Zeit in Vergessenheit geraten.
Also schießen die Kinder Tore, ohne dass ihnen jemand dabei zusieht und Severito beackert seine Bohnen. Doch wenn er könnte, würde er sofort den Spaten in die Ackerfurche werfen und wieder mit dem Training anfangen. Denn Fußballtrainer zu sein, ist wie Bohnen züchten, meint Severito. „Am Ende will ich etwas ernten.“
erschienen auf www.onceamigos.net