Die Ruinen von El Tajín gelten als die wichtigste archäologische Ausgrabungsstätte an der Küste des Golfes von Mexiko. Und das, obwohl niemand so recht weiß, wer sie gebaut hat. Am beeindruckendsten ist hier sicherlich die “Nischenpyramide” mit ihren 365 Nischen, die wohl die Tage im Jahr darstellen.
Mit dem Ventilator war die Nacht erträglich. Ein Bus fährt mich bis zur Haltestelle der Ruinenstätte El Tajín. Von dort sind es noch etwa zehn Minuten zu Fuß bis zum Eingang. Die meisten Verkaufsstände sind noch geschlossen, aber ein paar eifrige Schlepper rufen schon ihre Waren und Angebote aus. Um Viertel vor elf ist es schon ziemlich heiß. Die Anlage ist auf den ersten Blick nicht sonderlich spektakulär. Große, teils grasbewachsene Steinhaufen, die die Pyramiden darstellen. Doch je weiter ich auf das Gelände laufe, desto spannender wird es. Man muss eine Weile vor den Pyramiden und Gebäuden stehenbleiben und die Fassade genauer anschauen. Dann kommen überall kleine Muster, Farbreste und kleine Reliefs zum Vorschein. Am beeindruckendsten ist die Nischenpyramide, das Haupt-Bauwerk von El Tajín. Sie ist mit 20 Metern Höhe nicht die größte Pyramide, aber sie hat am meisten zu bieten. Auf ihren fünf Stufen finden sich rundherum in gleichen Abständen etwa fußballgroße, viereckige Nischen. In ihnen sind noch ein paar rote Farbreste zu erkennen. Insgesamt sollen es 365 Nischen sein, für jeden Tag im Kalender eine. Wofür sie gebraucht wurden? Forscher vermuten religiöse Zwecke und glauben, dass die Nischen rituell genutzt wurden. Aber sicher ist sich niemand. Denn niemand weiß bisher, wer El Tajín wohl zwischen 300 und 900 nach Christus gebaut hat. Das macht die Stätte vielleicht zur wichtigsten Ausgrabungsstätte an der Golfküste, sicherlich aber zu einer der spannendsten – zumindest für Archäologen.
Überall auf dem Gelände gibt es Ballspielplätze. Nicht vergleichbar bis einem Fußballplatz: Viel kleiner und unscheinbarer. Es handelt sich vielmehr um rechteckige Rasenflächen (mal schmal, mal breiter) zwischen zwei langen, flachen Gebäuden aus Stein. An den Seiten der Gebäude, die zum Spielfeld zeigen, sind noch einige schöne Flachreliefs erhalten.
Oberhalb dieses ersten Bereiches der Ausgrabungsstätte, Tajín Viejo, führt ein Weg zum zweiten freigelegten Teil: Tajín Chico. Dieser Teil ist von unten kaum zu sehen und versteckt sich teils hinter dichtem Dschungelgrün. Doch hier oben stehen noch weitere wichtige Gebäude. Doch zunächst genieße ich den Ausblick vom Weg auf den unten gelegenen Teil El Tajíns. Von hier wirken die Pyramiden wuchtiger und größer. Auch wird deutlich, wie gut die Nischenpyramide tatsächlich erhalten ist. Aber eigentlich ist der Aussichtspunkt ein idealer Ort, um im Schatten einiger Bäume eine kurze Pause zu machen und der erbarmungslos vom Himmel brennenden Sonne zu entfliehen. Ich ruhe mich eine Weile aus und genieße den Ausblick auf das von dichtem Wald umgebene Ruinenstätte.
Im einzigen Haus mit Dach sind in Tajín Chico sehr gut erhaltene Wandmalereien zu bewundern. Sonst ist dieser obere Teil nicht ganz so aufregend wie der untere – und er ist kleiner. Noch weiter oberhalb soll sich das alte Herrscherhaus von El Tajín befinden. Aber es ist so weit im Dschungel versteckt, dass Besucher dort nicht hinkommen. Vielleicht wird meine Aufmerksamkeit aber auch von einer Horde Achtklässler gestört, die den Ausländer unbedingt „für ein Schulprojekt“ interviewen wollen. Wie ich heiße? Woher ich komme? Wie es mir gefällt? Gut. Ob Deutschland sehr weit weg ist? Bayern München! Ballack! Die Hitze ist schlimm. Ja. „Insoportable“, sagt einer der Jungen, kann man nicht unterstützen. Ich bin beruhigt, dass selbst die Mexikaner schwitzen. Dann steige ich wieder herab zum unteren Teil von El Tajín und genieße noch einmal den herrlichen Blick von oben. Den dritten Teil von El Tajín schaffe ich gar nicht mehr vollständig zu sehen. Mein Besuch gleicht jetzt eher einem Zickzackkurs zwischen den Schatten spendenden Bäumen. Im Museum der Anlage bin ich nach zweieinhalb Stunden Ruinen-Besichtigung schon gar nicht mehr aufnahmefähig. Am Ausgang sitzen ein paar bunt verkleidete Voladores, aber sie fliegen gerade nicht. Das Touristenspektakel macht Mittagspause.
Das Radio im Bus zurück nach Papantla sagt für heute 23-34 Grad an. Ich bin sicher, dass wir uns längst am oberen Ende dieser Spanne bewegen. Und in der prallen Sonne ist es gefühlt doppelt so heiß. Der Fahrtwind, der durch die geöffnete Bustür strömt, sorgt wenigstens für etwas Kühlung.
Zurück in Papantla haben sich die Voladores auch hier eine Auszeit genommen. Das Touristenbüro im Rathaus hat außer einer arktischen Klimaanlage nichts zu bieten. Dafür lohnt ein Gang über den Mercado Hidalgo am Zócalo. Der Markt erstreckt sich über einen Häuserblock und drei Etagen. Von der Decke baumelt Kleidung, rohes Fleisch hängt an Haken. Viel ist nicht los und ich fühle mich ausgesprochen sicher. Für einen Markt nicht unbedingt das übliche Gefühl. Die Mittagszeit ist fast um. Deshalb nutze ich die Gelegenheit und kaufe bei einer Frau vor dem Markt das für die Region typische Sacahuil: Eine Mischung aus Weizen, Hühnchen und Bohnen, das die Frau aus einem großen Topf auf eine Plastikschale schaufelt. Immerhin ist es noch lauwarm. Aber die scharfen Chili-Schoten, die es dazu gibt, sorgen für ausreichend Hitze im Mund…
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich in Papantla kaum eine Handvoll ausländische Touristen gesehen habe. Die übersichtliche Stadt liegt auf keiner Hauptreiseroute. Aber für mich war sie der ideale Start meiner Reise.