Wer an die Mayas denkt, denkt auch gleichzeitig an Chichén Itzá. Die alte Stadt gilt als Inbegriff der Mayas, auch wenn noch Rätsel offen sind. Die Vermarktung läuft jedenfalls blendend: Tausende strömen täglich auf das Gelände, hunderte Verkäufer machen sich über sie her. Wer braucht noch einen Maya-Kalender zur Berechnung des Endes der Welt?
Chichén Itzá ist wohl irgendwie der heimliche Höhepunkt einer jeden Yucatán-Reise. Ich bin gespannt, was mich erwartet, dass den Ruinen so ein großer Ruf vorauseilt. Ich weiß aber jetzt schon, was mich erwartet: Heerscharen Touristen. Und ich werde zumindest hierbei nicht enttäuscht. Dicht an dicht stehen die Busse vor dem Eingang, vor den Kassen rufen Guides laut Nummern in die Menge, um ihre Gruppen beisammen zu halten. Es ist so ein Gedränge, dass ich mir Stacheln an den Ellenbogen wünsche. Ganz sinnvoll gelöst von den Mexikanern: Man muss sich an zwei(!) Kassen anstellen. An einer kassiert die Provinzregierung, an der anderen der Staat. Alle arbeiten langsam.
Schon hinter dem Drehkreuz am Eingang stehen die Verkäufer mit ihren Billigen Souvenirs Spalier: „Good Price“ „Buen Precio“ „One Dollar“ „10 Pesos“. Als zweites fällt dann DAS Symbol von Chichén Itzá ins Auge: Die Pyramide El Castillo. Wohl kaum eine Postkarte, auf der sie nicht drauf ist. Doch ganz so viele Menschen wie ich erwartet hatte stehen gar nicht vor ihr. Vielleicht wirken sie vor der riesigen Pyramide aber auch einfach nur ganz klein. In jedem Fall ist El Castillo ein sehr beliebtes Fotomotiv. Es ist schwierig, einen Foto-Platz zu finden, wo nicht gerade jemand vor der Pyramide für eine andere Kamera posiert. An der Grupo de las Mil Columnas (Gruppe der tausend Säulen) ist nicht mehr so viel los. Dafür stürzen sich die Verkäufer umso stärker auf mich… Zwar sind sie längst nicht so aufdringlich wie ich es aus Peru in Erinnerung habe. Sie verkaufen billigen Silberschmuck und ich bin immer wieder erstaunt, aus welchen Skulpturen oder Figuren man doch alles Aschenbecher herstellen kann. Vorbei an einigen Ballspielplätzen kommen wieder Gebäudegruppen in den Blick, die mit ihren reich verzierten Fassaden und Reliefs beeindrucken. Ihre Muster und Bilder sind teils arg verwittert und haben Moos angesetzt, teils sind sie akribisch restauriert oder gereinigt.
Chichén Itzá gilt zwar vielen als Inbegriff der Maya-Kultur. Forscher finden die Stätte aber eher deshalb interessant, weil sie große Abweichungen der Maya-Kultur vorweist. Vor 2300 Jahren gegründet, war sie Schauplatz grausamer Menschenopfer, Kriegsverherrlichung und Ballspiele um Leben und Tod. Waren es die Tolteken, die Chichén Itzá schließlich gewaltsam einnahmen und hier die häufig zu findenden Symbole ihrer gefiederten Schlange „Quetzalcóatl“ hinterließen oder doch fremde Maya-Stämme, die nur Handel mit den Tolteken führten und einen Teil ihrer Symbolik hierher brachten? Wissenschaftler streiten. Als Laie braucht man in erster Linie weniger geschichtliches Verständnis als gutes Schuhwerk. Denn die Ruinenstätte ist viel weitläufiger als man auf den ersten Blick vermutet. Schnell habe ich die Orientierung verloren. Aber die Pyramide El Castillo ist immer ein guter Fixpunkt.
Ich laufe den Massen hinterher zum Teil Chichén Viejo (altes Chichén). Hier befindet sich der ältere Teil der Anlage bzw. der wichtigere. Immer wieder sind Schlangenköpfe das Motiv der Reliefs, Bilder und Skulpturen. Mit „El Observatorio“ hatte Chichén Itzá auch eine Sternbeobachtungsstation, die sogar mit ihrer runden Form und einem Beobachtungsschlitz tatsächlich an neuere Sternwarten erinnert. Hier macht sich der Nachteil von Chichén Itzá gegenüber anderen Stätten bemerkbar: Man darf nirgendwo heraufklettern. Alles ist abgesperrt und „nur“ von außen zu besichtigen. Tatsächlich wird das langsam etwas eintönig. Das kann aber auch daran liegen, dass ich in den vergangenen Tagen so viele Ruinen gesehen habe, dass sich so etwas wie eine Sättigung eingestellt hat. Da haben es die Eidechsen einfacher, die hier zwischen den aufgeheizten Steinen leben: Für sie zählen die Absperrseile nicht. Aber wenn sie einmal herauskommen, flüchten sie auch schnell wieder vor den Touristengruppen, die hier in Koloniestärke vor ihnen stehen und Fotos von jedem Stein machen. Wer viel für seine Führung bezahlt hat, ist schnell klar: Gruppen, an die Regenschirme ausgeteilt werden, während alle anderen nass werden. Es beginnt wieder zu schütten. Unweit der großen Pyramide schützen ein paar Bäume mehr schlecht als recht diejenigen Menschen, die hier etwas Schutz suchen. Unfassbar allerdings, wie schnell die Verkäufer ihre Strategie ändern und statt Silberschmuck auf einmal mit Massen an Plastikponchos da stehen. Ich habe glücklicherweise meine Regenjacke dabei. Doch die Rasenflächen sind durchweicht und matschig. Bin ich vor dem Wasser von oben halbwegs geschützt, werde ich an den Füßen nass.
In Chichén Itzá steht der größte Ballspielplatz, der je gefunden wurde. Welche Funktion das Spiel hatte oder welche Regeln es befolgte, ist bis heute unklar. Sicher ist aber: Es ging um Leben und Tod. Auf den Reliefs, die das Spielfeld säumen, sind immer wieder Totenschädel oder abgeschlagene Köpfe zu sehen. Furchteinflößend. Gespielt wurde mit einem zwei oder drei Kilo schweren Kautschukball. Die Ringe, durch die er wohl geworfen werden musste, sind hier noch gut erhalten und in einiger Höhe angebracht. Glaubt man den Reliefs, hatten einige Spieler Sandalen an, andere richtige Schuhe (Ein Tourguide will auch das Nike-Zeichen erkannt haben). Ob am Ende der Verlierer sterben musste oder der Gewinner sterben durfte bleibt ein Rätsel.
Noch ein letzter Blick auf die Castillo-Pyramide und ich lasse den Touristen-Zirkus hinter mir. Die Verkäufer waren erfolglos.